TP 3: Poetiken des Staunens vom späten 17. bis frühen 19. Jahrhundert

Im deutschen Sprachraum wird das Staunen im 18. Jahrhundert zu einer grundlegenden poetologischen und ästhetischen Kategorie, die in den zur gleichen Zeit entworfenen Poetiken des Neuen, Wunderbaren und Erhabenen entwickelt wird, welche die dichtungstheoretischen Diskussionen aus dem romanischen und englischen Sprachraum aufgreifen und weiterführen. Das Teilprojekt setzt bei einer Neulektüre grundlegender Texte (z.B. von Gottsched, Breitinger, Baumgarten, Meier, J.A. Schlegel, Wieland, Mendelssohn, Riedel, Tieck, Novalis u.a.) als um das Staunen kreisende Affektpoetiken an. Es geht dabei von vier systematischen Leitfragen aus (siehe dazu im Detail: Gess: Staunen als ästhetische Emotion, 2013):

(1) Was ist Staunen und was ist Staunen als ästhetischer Affekt (d.h. als affektive Reaktion auf ästhetische Objekte)? Hier wird insbesondere die an Descartes angelehnte Hypothese des Teilprojekts zu prüfen sein, Staunen als ersten, d.h. allen anderen ästhetischen und affektiven Valorisierungen vorausgehenden Affekt zu verstehen.

(2) Durch welche ästhetischen Reize wird Staunen erregt? Zwei der unten ausgeführten Schwerpunkte schließen an diese Frage an: siehe unten A, B.

(3) Was sind die Auswirkungen und Funktionen von Staunen als ästhetischem Affekt? Hier wird insbesondere auf die in den Texten zu beobachtende Ambivalenz einzugehen sein, Staunen einerseits, in der Aristotelischen Tradition des thaumazein stehend, als einen zur Erkenntnissuche animierenden Affekt zu instrumentalisieren, andererseits aber auch als einen Affekt zu verstehen, der an sich (und nicht erst durch den antizipierten Wissensgewinn) lustvoll ist und darum gerade umgekehrt zum Verharren in der Unwissenheit motiviert. Descartes unterscheidet entsprechend étonnement und admiration. Den Aufklärungspoetiken bleibt das Staunen darum ebenso verdächtig, wie es von den barocken Spektakelästhetiken gefeiert wird.

(4) Hat Staunen als ästhetischer Affekt einen historischen Index? Hier verlässt das Teilprojekt seinen historischen Rahmen und geht der Vermutung nach, dass im Kontext moderner Einfühlungsästhetiken das Staunen, das eine Distanznahme impliziert, einerseits einen schwereren Stand haben muss; andererseits geht das Teilprojekt jedoch davon aus, dass das Staunen - entkoppelt vom Begriff des Wunderbaren, der in den deutschen Poetiken seit Mitte des 19. Jahrhunderts kaum noch präsent ist - in neuen generischen Zusammenhängen wie der Science Fiction, in neuen Medien wie dem frühen Film und in neuen ästhetischen Praktiken (der Verfremdung, des filmischen Special Effects, dazu siehe unten) erneut eine zentrale Rolle spielt.

Auf diesen für das ganze Sinergia grundlegenden Fragen aufbauend konzentriert sich das Teilprojekt auf folgende vier Schwerpunkte (A, B, C: bearbeitet durch Gess; D: bearbeitet durch Huff):
 

(A) Poetiken der Störung. Im Anschluss an die oben gestellte zweite Frage interessiert sich das Teilprojekt vor allem für literarische Verfahren der Verfremdung. Es geht von der Hypothese aus, dass das Staunen als Störung einer Ordnung (im Objekt wie im Subjekt) zu verstehen ist: dem gestörten Objekt entspricht ein ge- und zugleich ver-störtes Subjekt. Auf Seiten des Subjekts ist hier vor allem an eine Störung seiner Erwartungshaltung zu denken. Auf Seiten des Objekts an Verfahren, die den Text vom Vertrauten plötzlich ins Fremde umkippen lassen, sei dies auf inhaltlicher (z.B. Moment der Peripetie) oder stilistischer Ebene (z.B. ungewohnte Metapher). In dieser Weise spürt das Teilprojekt der Vorgeschichte des Verfahrens der Verfremdung nach, das man gemeinhin mit der literarischen Moderne und ihren Vertretern wie Šklovskij oder Brecht assoziiert.

 

Gottsched, Johann ChristophErste Gründe der gesammten Weltweisheit darinn alle philosophische Wissenschaften, in ihrer natürlichen Verknüpfung, in zweyn Theilen abgehandelt werden ; Zum Gebrauche akademischer Lectionen entworfen ; Mit einer kurzen p…

Gottsched, Johann Christoph

Erste Gründe der gesammten Weltweisheit darinn alle philosophische Wissenschaften, in ihrer natürlichen Verknüpfung, in zweyn Theilen abgehandelt werden ; Zum Gebrauche akademischer Lectionen entworfen ; Mit einer kurzen philosophischen Historie, nöthigen Kupfern und einem Register

Leipzig 1762, Ph.u. 221-1

(B) Archäologie des Special Effects im 17./18. Jahrhundert. In Zusammenarbeit mit dem Modul "Die Visualität der Barockoper" im NCCR eikones-Bildkritik interessiert sich das Teilprojekt für "Special Effects" als ästhetisches Verfahren zur Erzeugung von Staunen. Es untersucht dieses Verfahren sowohl in der Barockoper des späten 17. und 18. Jahrhunderts, deren Spezialeffekte in ästhetischen und poetologischen Schriften des 18. Jahrhunderts häufig zum Gegenstand der Kritik werden, als auch in der Literatur dieser Zeit, deren entsprechende Spezialeffekte durch das Teilprojekt allererst zu erarbeiten sind (z.B. Plötzlichkeit, Mannigfaltigkeit, Intensität, ua.). Unter dem "Special Effect" versteht das Teilprojekt, in Anlehnung an filmwissenschaftliche Überlegungen, Verfahren, die - um hier Urs Stäheli aufzugreifen - das Moment der sinnlichen Erfahrung selbst zu steigern versuchen, indem sie einerseits das Nichtdarstellbare darstellen (im 18. Jahrhundert etwa durch das Wunderbare repräsentiert) und andererseits zugleich die Bedingungen der Darstellbarkeit sichtbar machen bzw. auf diese reflektieren. Insofern hängt der Staunensdiskurs hier immer schon mit einem Diskurs über das Artefakt zusammen.

(C) Die visuelle Codierung des Staunens im poetologisch-literarischen Diskurs des langen 18. Jahrhunderts: In diesem Zusammenhang beschäftigt sich das Teilprojekt sowohl mit optischen Instrumenten und ihrer poetologischen Funktion als auch mit literarischen Portraits als Instrumenten literarischer Selbstreflexion.

(D) Das von Micha Huff bearbeitete Dissertationsprojekt verfolgt die Frage nach einer Gattungspoetik des Staunens anhand von kleinen Prosaformen im späten 18. Jahrhundert.