TP 2: Das Staunen in der Dichtung und in der poetologischen Reflexion der italienischen Literatur – von Dante und Petrarca bis zum Ausgang der Renaissance

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In diesem Projektbereich werden in einem ersten Teil die lyrischen und philosophischen Texte Dantes und Petrarcas nach einer Ästhetik des Staunens befragt. Ausgegangen wird von der Annahme, dass das Staunen als subjektive Erfahrung von diesen Autoren erstmals gezielt in Szene gesetzt wurde. Während bei Dante das Staunen in der subjektivierten Erfahrung des Jenseits begründet liegt, ist das Staunen bei Petrarca als Staunen über die Innenwelt des Geistigen sowie als Einbildungskraft des Dichters bereits als ästhetisches Phänomen konzipiert. Die zentrale Bedeutung des Staunens bezüglich der Vermittlung an die Leser wie auch innerhalb der Struktur und Sinnkonstitution der Texte soll herausgearbeitet werden.

In einem zweiten Teil, werden Funktion und Bedeutung des Staunens – vornehmlich anhand der Begriffe «admiratio» und «meraviglia» – in den poetologischen Schriften der Renaissance untersucht. Das Staunen wird in diesen Texten, die sich im Umfeld der antiken Rhetoriken sowie der (Wieder-)Entdeckung verschiedener griechischer Poetiken (Pseudo-Longin, Aristoteles) etablierten und entwickelten, zu einem zentralen Moment, das sowohl produktions- wie auch rezeptionsästhetische Reflexionen in sich bündelt: Es wird zu einem grundlegenden ästhetischen und poetologischen Konzept. Mit der Untersuchung der Texte aus dem Quattro- und Cinquecento soll zudem gezeigt werden, inwiefern diese als Grundpfeiler für die Entwicklung der europäischen Literatur und Literaturtheorie gesehen werden können, u.a. in Bezug auf den Geniebegriff sowie den Begriff des Sublimen/Erhabenen. Der zweite Teil bildet das Dissertationsprojekt von Andrea Elmer.

«Denn das Staunen ist eine Betäubung des Geistes durch das Sehen, Hören oder Wahrnehmen grosser und wunderbarer Dinge; insofern sie gross erscheinen, erzeugen sie in jenem, der sie wahrnimmt, Verehrung; insofern sie wunderbar erscheinen, machen sie begierig, etwas darüber zu wissen. Und deshalb haben die alten Könige in ihren Wohnstätten wunderbare Arbeiten aus Gold, Steinen und Kunstfertigkeit gemacht, auf dass jene, die sie sehen, in Staunen versetzt werden und dadurch ehrfurchtsvoll und zu solchen, die ehrenvolle Bedingungen des Königs erbitten.»

Dante Alighieri, Das Gastmahl. Viertes Buch, übersetzt von Thomas Ricklin, eingeleitet und kommentiert von Ruedi Imbach, Hamburg 2004, S. 181 (Convivio IV, xxv, 5).

«Indem ich nun alles im einzelnen bewunderte und einmal etwas Irdisches bedachte, einmal den Geist – ähnlich wie den Leib – zur Höhe lenkte, fiel mir ein, die Confessionen von Augustinus, ein Geschenk deiner Güte, aufzuschlagen, das ich zum Andenken sowohl an den Schöpfer wie an den Spender wohl behüte und ständig bei mir habe […]. Ich schlage es auf, um zu lesen, was immer mir in die Augen falle, denn was anderes konnte es sein als etwas Frommes und Erbauliches? Zufällig aber bot sich das zehnte Buch dieses Werkes an. Mein Bruder stand in der Hoffnung, aus meinem Mund ein Wort von Augustinus zu hören, mit offenem Ohr an meiner Seite. Gott ist mein Zeuge und auch er, der es miterlebte, dass die Stelle, auf die mein Auge fiel, so lautet: "Da gehen nun die Menschen hin, um die Höhe der Berge, die mächtigen Fluten des Meeres, die breit hinströmenden Flüsse, den Umkreis des Ozeans und die Bahnen der Gestirne zu bewundern, und verlieren dabei sich selbst." Ich erstarrte, so gesteh ich, und indem ich den wissbegierigen Bruder bat, mich mir selber zu überlassen, schloss ich das Buch, zornig auf mich, weil ich auch jetzt noch Irdisches bewunderte, obwohl ich längst – sogar von heidnischen Philosophen – hätte lernen müssen, dass ausser der Seele nichts wunderbar, und neben ihrer Grösse nichts gross ist.»

Francesco Petrarca, Fam. 4.1, an Dionigi da Borgo San Sepolcro vom Augustinerorden, in: Francesco Petrarca: Familiaria. Bücher der Vertraulichkeiten, hrsg. von Berthe Widmer, Berlin 2005, S. 185.